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Übertriebenes zur Genealogie per Internet und überhaupt

Hans-Peter Wessel, 1998

Da gibt es doch Zeitgenossen, die uns Familiengeschichtler nicht ernst nehmen. Gibt es etwas Schlimmeres? So z.B. ein Autor in der Zeitschrift "Die Zeit" im Teil "Modernes Leben".* Dieser scheut sich nicht einmal, nestbeschmutzend den eigenen Familientag in eine Reihe mit rituellen Fahnengelöbnissen, Schützenmarschierern und irrationaler Adelshuldigung zu stellen! Gehöre doch die Ahnenforschung auch zu den seltsamen deutschen Bräuchen und Riten, die nach einer bestimmten Epoche nur vorübergehend in Mißkredit geraten sei. Wir Ahnenforscher wollten uns daran festhalten, wo wir herkämen, statt uns für den Weg voraus zu interessieren, behauptet er. Das ist natürlich böse, verallgemeinernde Verleumdung! Gab und gibt es doch genügend Zitate aus berufenem Mund, die den Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft beschwören. Meistens sind sie zwar für die allgemeine und insbesondere die "schicksalhafte" Historie ersonnen. Ist jedoch der Wunsch nach Sinnfindung in der persönlichen Familiengeschichte so abwegig?

Aber wie hält es dabei der moderne, computer-nutzende, der Wissenschaft verbundene Genealoge mit der "historical correctness", um ein modisches Schlagwort leicht abgewandelt anzubringen? Er hütet doch nicht etwa alten, sauer gewordenen Wein in neuen Schläuchen? Nein, Herr ZEIT-Autor, schönfärberische Familientümelei verträgt sich nicht mit PC und Modem! Seit etwa 12 Jahren gibt es Computer-Genealogie**, eine Zeitspanne genau so lange wie diejenige, während der die Großvätergeneration genötigt war, ideologisierte Ahnenforschung zu betreiben. 12 Jahre sind eine kurze Zeit, im ersteren Fall allerdings eine nachhaltig kompromittierende. Nun aber sind die Enkel an der Reihe, aus eigenem Antrieb und mit neuer Methodik. Jüngere, technisch Versierte haben sich als erste daran gewagt, die digitale Datentechnik für Genealogie zu gebrauchen. Seither sind viele Informationen auf Disketten oder CD-ROMS von PC zu PC gegangen und haben den Teilnehmern Hinweise auf neue Ahnen gegeben. Grundlage dafür sind Genealogie-Programme, deren Vielfalt manchen Einheitsfanatiker vielleicht stört. Aber selbst die unvollkommenste Software-Ausführung ermöglicht dem Benutzer eine übersichtliche Genealogie-Darstellung und ihre Reproduktion.

Seit etwa einem Jahr überrollt Europa schon die nächste Modernisierungswelle aus den USA, genannt Internet-Kommunikation. Persönliche Genealogie-Homepages, E-mail-Korrespondenz und die Teilnahme an genealogischen Usenet-Newsgroups sind die neuen Möglichkeiten der "Internet-Genealogie". Das Allerneueste ist ein Chat Room "Ahnenforschung", eingerichtet durch einen Inovationsfan über einen Online-Dienst. ( Bei der Premiere gab es noch chaotisches Genealogie-Gestammel. Ein ungebetener Zufalls-Gast konnte es sich nicht verkneifen, die Abstammungsfragen pauschal mit einem Hinweis auf Darwins Erkenntnisse zu beantworten ) Über das World-Wide-Web (WWW) funktioniert die Kommunikation "global", wie ein anderes Schlagwort unserer Tage heißt.

Erstaunt nehmen dabei die Internet-Teilnehmer aus der oben gescholtenen einheimischen Genealogenschaft wahr, daß nicht nur sie, sondern auch Amerikaner und Australier an anderen Enden der Welt wissen wollen, woher sie bzw. ihre Groß- oder Urgroßeltern "eigentlich" herkommen! Sind das Leute, die tiefsinnig Halt in vermeintlich schöner Vergangenheit suchen, wie man es den Nachkommen der Redlich-im-Land-Gebliebenen als ethnische Marotte vorhält? Das dürfte bei den Auswanderer-Urgroßenkeln nicht zutreffen, denn sie werden sich kaum Illusionen über die Auswanderungsgründe der Vorfahren machen.

In den Schlagwortzeilen (Postings) der genealogischen Newsgroups erscheint oft der Notruf HELP, dabei der betreffende, gesuchte Familienname. Im vollständigen Suchtext steht dann vielleicht noch ein Ort, oder der Name und das Ankunftsjahr eines Auswandererschiffes. Die häufigen Übertragungsfehler bei der Schreibweise von Personen- oder Ortsnamen fordern eine Hilfeleistung selbst dann heraus, wenn man zur eigentlichen Frage nichts beitragen kann. Ein Glück für den Fragesteller, wenn ein Internet-Teilnehmer auf dieser Seite des Atlantiks darauf eingeht und wenigstens die richtige Schreibweise eines Orts- oder Familiennamens durchgibt. Vielleicht kann er sogar die Anschrift eines zutreffenden Kirchenbuchamtes nennen. Sehr schnell merkt bei diesen Internet-Kontakten der deutsche Genealoge, der sonst vielleicht im Lebenskreis Luthers oder Dürers nach eigenen Wurzeln gräbt, daß er es mit Partnern zu tun hat, die "nur" ihre Urgroßeltern suchen. Er wird ihnen als sozusagen rückwärts "Fortgeschrittener" selten direkt helfen können. Eine Frage drängt sich angesichts der Unbefangenheit und Neugier der überseeischen Ahnensucher allerdings auf: Interessieren wir in der alten Welt uns eigentlich auch für die Lebensumstände der unmittelbaren zwei bis drei Vorgenerationen, um daraus eine anzustrebende Richtung für den eigenen Weg zu erkennen?*** Oder mißt sich das "Fortgeschritten-Sein" nur an der Zahl der Ahnen? Vermitteln wir Noch-Gehörtes oder Schon-Selbsterfahrenes den Nachkommen, auch wenn keine familiären Geistesgrößen oder Finanzgenies zu preisen sind? Neue, fortschrittliche Techniken nehmen wir an, - wer verhilft uns nun noch zu neuem Verständnis der Familiengeschichte, über den Sammlerhorizont einer Ahnentafel hinaus? HELP!

Anmerkungen:

* Reiner Luyken: "Die Köpfe rechts" in "Die Zeit" Nr. 41, 3.10.1997, 52.Jahrgang.

** Auf dem Deutschen Genealogentag 1985 in Bremen fand die erste Sondertagung eines EDV-Kreises statt, ein Jahr später in Soest die ersten praktischen Vorführungen von EDV-Genealogie.

*** Der ketzerische Verfasser dieser Glosse bekennt, daß z.B. er selbst zur Erforschung der Herkunft eines berühmten Nürnberger Handelsherren im 15.Jahrhundert und am Ende der Ahnentafel mehr Zeit und Mühe aufgewandt hat, als für die Klärung des Schicksals der 14 verschollenen Geschwistern seiner Großmutter.


Erschienen in der COMPUTERGENEALOGIE, 1998, Heft 38

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